Warum immer das Rad neu erfinden?
Ein regelmäßig wiederkehrendes Thema im Vertrieb ist die Frage, wieviel Struktur (Prozesse, Instrumente, standardisierte Unterlagen etc) notwendig ist, um den Vertrieb zu Höchstleistungen zu bringen. Meiner Erfahrung nach wird im Vertrieb deutlich zu wenig strukturiert gearbeitet.
Warum das so ist, welche Auswirkungen es hat und wie man es besser machen kann, darauf möchte ich im Folgenden näher eingehen:
Individuelle Freiheit im Vertrieb und ihre Konsequenzen
Ein Vorteil von Vertriebsjobs ist die relativ hohe individuelle Freiheit, die der Arbeitnehmer dabei genießt. Er / sie entscheidet relativ selbständig darüber, welche Kunden wann kontaktiert und was mit ihnen besprochen und angeboten wird.
Diese Unabhängigkeit hat für das Unternehmen eine Schattenseite, es kann nämlich dazu führen, dass jedermann im Vertrieb seine persönlichen Prozesse entwickelt. Was auf den ersten Blick gut klingt, kann vielfältige negative Auswirkungen haben:
- Hoher Mehraufwand entsteht, wenn jeder Vertriebsmitarbeiter seine Unterlagen, Informationen und Angebote individuell erstellt und abändert.
- Es werden nicht die Kunden mit hohem Potential betreut, sondern die „netten“ Kunden bei denen keine Schwierigkeiten zu erwarten sind
- Es besteht keine Transparenz über die tatsächlichen Potentiale im Markt, denn der Analyseaufwand für den Einzelnen ist zu hoch, daher wird ziellos drauflosgearbeitet
- Neukundenakquise hat geringe Erfolgschancen und man ist mit viel Ablehnung konfrontiert, diese wird daher nur im Notfall aktiviert
In anderen Unternehmensbereichen haben wir die gegenteilige Situation: Zum Beispiel ist in der Produktion klar geregelt, welches Teil wann wo und wie verschraubt wird, wieviel Zeit dafür aufgewendet werden darf, und wieviel Fehlertoleranz es gibt. Wenn in der Produktion so gearbeitet würde wie häufig im Vertrieb dann würde das im Desaster enden: Jedes fertige Produkt würde anders aussehen oder wäre gar nicht erst funktionstüchtig. Außerdem wäre in jedes Produkt ein unterschiedlich hoher Zeit- und Materialaufwand hineingeflossen.
Dies wäre aber nicht die Schuld der Mitarbeiter, sondern liegt in den falschen oder fehlenden Strukturen begründet.
Warum wird Struktur im Vertrieb häufig vernachlässigt?
Einen ganz wesentlichen Anteil daran hat der häufig behauptete „Faktor Mensch“. Unter diesem Deckmantel trifft man häufig auf Meinungen wie:
- jeder soll den Vertriebsansatz wählen, der persönlich am besten zu einem passt
- man kann sowieso kein „System“ anlegen, weil alle Kunden unterschiedlich sind
- der Faktor „Mensch“ ist so individuell, dass standardisierte Prozesse nur die individuelle Mensch-zu-Mensch Kommunikation und damit den Vertriebserfolg behindern
Dabei sind Struktur sowie der „Faktor Mensch“ keine Gegenpole, beides kann sich ideal miteinander ergänzen. Einen angenehmen Nebeneffekt hat das Beharren auf die Wichtigkeit des „weichen“ Faktors Mensch auf jeden Fall: man muss sich nicht allzu sehr mit unangenehmen harten Fakten auseinandersetzen.
Zum persönlich gewählten Vertriebsabsatz:
Der persönlich gewählte Ansatz ist für das Unternehmen und jeden einzelnen Verantwortlichen im Vertrieb gefährlich, denn
- Wer garantiert, dass das persönliche Vorgehen das Beste aus dem Potential herausholt?
- Wer garantiert, dass das persönliche Vorgehen nicht eher zufällig aus gemachten Einzelerfahrungen bestätigt, die das eigene Vorgehen übermäßig beeinflussen?
- Wer garantiert, dass das persönliche Vorgehen nicht von Kollegen beinflusst ist, die Ihrerseits auf Einzelerfahrungen zurückgreifen?
Natürlich soll man seine individuelle Persönlichkeit in die Arbeit mit einfließen lassen. Authentizität im Auftreten in wichtig und ausdrücklich gewünscht, und bringt nachweislich Erfolg. zB versteht es sich von selbst, dass man in der Kaltakquise am Telefon seine eigenen Worte wählt statt einen Leitfaden herunterzulesen.
Es soll allerdings nicht dazu führen, dass Unterlagen individuell abgeändert werden, weil sie so zum Verkaufsstil besser passen. Verkaufsunterlagen sind so erstellt, dass sie die Produktvorteile den Zielkunden ideal näherbringen (sind sie das nicht so sind die Unterlagen insgesamt zu überarbeiten, aber nicht von jedem einzelnen Mitarbeiter, siehe Effizienz).
Es soll auch nicht dazu führen, dass man bestimmte Produkte intensiver anbietet als andere nur weil sie einem persönlich mehr zusagen. Entscheidend ist, was der Markt benötigt.
Es soll auch nicht dazu führen, dass man sich mit den Kunden beschäftigt, mit welchen man am besten auskommt und wo der Kaffee am besten schmeckt, sondern den durchaus auch einmal unangenehmen Gesprächspartner bei denen vielleicht noch Potenzial vorhanden ist.
Es soll auch nicht dazu führen, dass Mitarbeiter kritische Anrufe bei wichtigen Kunden oder die Abgabe von wichtigen Angeboten lange hinausschieben, weil sie Sorge vor einer negativen Antwort haben.
Zur Unterschiedlichkeit der Kunden:
Gerne wird betont, wie unterschiedlich doch die Kunden seien, deshalb sollte doch bitte das Unternehmen nicht so viel Aufwand in die Standardisierung stecken, wo doch ohnehin Vieles individuell angepasst werden muss.
Die Unterschiedlichkeit der Kunden gilt aus Argument tatsächlich nur dort, wo es eine Handvoll Großkunden gibt. In allen anderen Branchen wo es hunderte oder tausende Kunden gibt, bedeutet ein individueller Vertriebsansatz vor allem eine Vergeudung von knappen Ressourcen. Grund für diese Individualisierung ist oft, dass es keine gesamthaften Informationen über Kundengruppen gibt, also welche Kundentypen es mit welchen Bedürfnissen gibt.
Diese Informationen sind unbedingt zu erheben und zu quantifizieren, nur so kann eine Standardisierung bei gleichzeitiger Individualisierung funktionieren.
zB könnte man das so darstellen, als Beispiel der Kundengruppe „Sanitärhandwerker“:
Kundengruppe A legt besonders hohen Wert auf Design und berät ihre Kunden in dieser Richtung intensiv
Kundengruppe B ist vor allem ein Angebot auf dem neuesten Stand der Technik wichtig
Kundengruppe C wickelt Aufträge nach Standardmuster ohne Besonderheit ab
Diese Kundengruppen kann der Vertrieb anhand standardisierter Erhebungsbögen ermitteln, diese Informationen werden ergänzt durch eine Analyse von Verkaufskennzahlen und ggf auch Befragungen ausgewählter Kunden. Danach wird Ihnen ein relativ klares Bild von unterschiedlichen Kundengruppen vorliegen und Sie können Kataloge, Angebote, Services etc auf diese Kundengruppen hin individualisieren. Ab diesem Zeitpunkt gibt es für den Vertrieb keine Ausrede mehr standardisiert an die einzelnen Kundengruppen heranzutreten.
Zur Individualität der Kundenbeziehung Mensch zu Mensch:
Ähnliches gilt für die menschliche Beziehungskomponente. Ein guter Vertriebsmitarbeiter wird sich persönlich auf das Gegenüber unbewusst richtig einstellen. Genauso wie bei den Kunden gibt es natürlich auch bei Menschen die Möglichkeit sie in Gruppen zusammenzufassen und diese Gruppierung für die Vertriebsarbeit nutzbar zu machen. Dafür gibt es Systeme im Markt, diese kranken meist nur daran, dass sie einmal trainiert und dann vergessen werden.
Meiner Erfahrung nach lohnt es sich, zb die Liste der Kunden durchzuarbeiten und jeweils anhand objektiver Kriterien zu beurteilen, welcher „Typ“ Mensch der jeweilige Entscheider ist, und was diesen ganz besonders wichtig ist. Dabei wird man meist feststellen, dass diese Menschen sehr ähnliche Bedürfnisse haben, da sie in der gleichen Branche arbeiten und alle vor ähnlichen Aufgabenstellungen stehen. Im Detail wird, um auf das obige Beispiel zurückzukommen, der Sanitärhandwerker mit Fokus auf Design vielleicht offener für neue Produkte sein als derjenige, der immer die gleichen Standardartikel verbaut. Im Grunde werden Kunden- und Menschentyp häufig im Gleichklang zu bewerten sein.
Ausblick und Empfehlung:
Wenn sich die Leistung im Vertrieb verschlechtert ist dies häufig ein schleichender Prozess, der gar nicht so leicht zu erkennen ist. Dellen im Umsatzverlauf sind fast in jeder Branche üblich, und ob es eine temporäre Schwäche ist oder wirklich ein fundamentales Problem vorliegt ist nicht gleich offensichtlich. Bis man merkt, dass ein dauerhaftes Problem besteht, ist man schon mittendrin und ein Umsteuern wird immer schwieriger je länger man zuwartet.
Sie sollten Sich daher in regelmäßigen Abständen, auch wenn die Umsatzsituation gut ist, die folgenden Fragen stellen:
- Gibt es ein fundamentales Problem bei dem Produkt- und Serviceangebot hinsichtlich des Preis-/Leistungsverhältnisses, das den Verkauf beeinflusst oder zukünftig beeinflussen könnte?
- Haben wir noch die richtige Mannschaft, um die sich ändernden Anforderungen der Kunden bedienen zu können?
- Setzen wir die richtigen Instrumente und Strukturen um Prozesse ein, um strukturiert alle Potenziale heben zu können?
Es spricht dabei vieles dafür, mehr Struktur in Vertrieb einziehen zu lassen. Weder Kunden noch Vertriebsmitarbeiter sind SO individuell, dass das Rad jedes Mal neu erfunden werden muss. Vor allem wird viel Potenzial brach liegen gelassen, wenn nicht systematisch alle Möglichkeiten genutzt werden, um neue Kunden zu begeistern, die Betreuung der bestehenden auf eine neue Stufe zu heben sowie die Effizienz in der täglichen Vertriebsarbeit zu steigern.